Nein, dabei handelt es sich nicht um Karneval. Obwohl, das Thema Verkleidung sollte hierbei nicht völlig außer Acht gelassen werden. Allerdings, mit Lindaus Fünfter Jahreszeit sind die Psychotherapiewochen gemeint.
Und: Ein Psycho (so werden sie hier in Lindau genannt, aber nicht, weil man ihnen keinen Respekt zollt, sondern weil man dann Zeit und Buchstaben sparen kann) macht zwar noch keinen Sommer, viele Psychos aber läuten in Lindau schon einmal den Frühling ein. Sie kommen im April. Und das ist alles andere als ein Scherz. Dennoch lacht die Sonne gerne über sie. Halt, das könnte jetzt falsch verstanden werden. Formuliere ich es anders: Die Sonne lacht über ihnen. Fakt ist, dass mit den ersten Rollkoffer schleppenden und Naturfarben tragenden Gestalten auch das gute Wetter beginnt.
Um so befremdlicher ist es für den Lindauer, der dann erstmals die dicke Winterjacke am Garderobenhaken hängen lässt, dass die Stadt voll ist mit Menschen, die Wolldecken mit sich tragen. Fürchten sie einen plötzlichen Temperatursturz?
Tatsächlich hegt der Psychotherapeut eine unheimliche Leidenschaft für Capes. Hier offenbart er eine Neigung zum Praktischen. Ist es doch ratsam, sich beim Yoga im Freien etwas unterzulegen, denn so warm ist der Boden noch nicht. Und auch Abends, wenn man in kleinen Grüppchen am Seeufer sitzt und die Seminare des Tages miteinander Revue passieren lässt, kann so ein Deckchen nicht schaden.
Damit hat es sich mit dem Praktischen im Alltag meist aber auch schon.
Das liegt daran, dass der Psychotherapeut im Kern tiefenentspannt ist. Da kann er nichts für, das ist beruflich bedingt.
Sehr gut beobachten kann man das, wenn man einkaufen geht. Vor und nach den Seminaren, aber am allerbesten während den Pausen einer solchen Veranstaltung sucht man einen Laden auf, den die Psychos in Massen frequentieren. Schnell bilden sich an den Kassen lange Schlangen. Als Kassierer könnte man diese nun schnell bewältigen, wenn jeder sein Mineralwasser, seine Bonbons oder was auch immer - in der Regel handelt es sich nicht um einen Großeinkauf - mit einem Eurostück oder einem Schein bezahlen würde. Doch warum so einfach? Ich habe ja die Theorie, dass der Psychotherapeut vor der Reise nach Lindau sein Sparschwein schlachtet. Dieses Indianergeld füllt er in einen speziellen Geldbeutel.
Und mit diesem Posten bestreitet er dann seine Extraausgaben.
Folglich wird ihm an der Kasse ein Betrag genannt, den er dann auf Heller und Pfennig begleicht. Oder es zumindest versucht. Könnte klappen, wenn die Endsumme vorher schon im Kopf ermittelt worden wäre. Aber ach, der Kopf ist ja mit anderen Sachen proppevoll, schließlich befindet man sich auf einer Fort- und Weiterbildung. Entspannt wird also Cent um Cent hervorgekramt. Zwar hat man keine Zeit, aber irgendwo muss doch noch ein Fünferle sein... Doch nicht? Und wo ist jetzt der andere Geldbeutel, der mit den Scheinen? Das Verkaufspersonal blickt resigniert in der Luft herum, mehr nicht. Man möchte schließlich nicht verhaltensauffällig erscheinen. Obschon ein gewisser Drang zur Aggression sich anstaut. Die Schlange selbst, mittlerweile von der Boa zur Python mutiert, bleibt gelassen.
Gesine diskutiert mit Hedwig darüber, ob Gesine sich nun hier Tempos kaufen soll, oder ob sie Hedwigs Angebot, ihr einige zu leihen, annehmen soll. Igitt! Irgendwann ist Gesine an der Kasse angekommen. Kaum sind die Tempos eingetippt, entscheidet sie sich doch für die Leihgabe von Hedwig. Also alles noch mal von vorne. Wenigstens reicht nun das Kleingeld. Mir liegen keine statistischen Daten darüber vor, wie viele Dienstleistenden nach den Psychotherapiewochen nervlich derart auf dem Zahnfleisch daher kommen, dass sie selbst eine Therapie beginnen müssen. Und über die noch weitaus höhere Dunkelziffer breitet sich das naturfarbene Cape des Schweigens.
Jedoch, die Art unterschwelliger Kundenakquise, welche die Psychotherapeuten da betreiben - Respekt!
Doch wie auch immer der Lindauer über die Psychotherapiewochen denken mag, sie gehören zu Lindau einfach dazu. Und sind um Längen lustiger zu beobachten, als beispielsweise die Nobelpreisträger. Nie werde ich vergessen, als ich im Dunkeln an einem Park vorbeiradelte und auf einer Wiese eine ansehnliche Gruppe von Menschen in vorwiegend körperferner Gewandung die Arme gen Himmel hob und
plötzlich kollektiv schrie. Was war ich schnell. Und das ohne Rennrad! Oder der Mann, der in aller Frühe auf einem Spielplatz in Zeitlupe seinen Schatten verdrosch... Damals dachte ich noch, Tai Chi sei ein asiatisches Gericht.
Heute erschrecke ich nicht mehr, wenn im April hinter hohen Hecken ein
vielstimmiges Hecheln und Stöhnen erklingt. Weiß ich doch, es sind keine Frühlingsgefühle, sondern lediglich eine Outdoor - Veranstaltung zum jeweiligen Wochenthema.
Und so geht es vermutlich den meisten Lindauern. Man hat sich an die Psychos gewöhnt, man nimmt sie hin, ein bisschen aus - und ohne sie wäre die Stadt im April ja doch nur leer und reizarm.
Denn mittlerweile weiß man: Die tun nichts, die wollen bloß tagen.
Karin Lang